Sonntag, 17. November 2013

Roxanna und Maria - Tamil Nadu, Indien



„Und plötzlich hatten wir 80 tamilische Brüder“ - Aus dem Alltag im Anbu Illam „Orphanage“

Ein bisschen abseits der eigentlichen Stadt Thanjavur, mit dem großen Tempel, steht das Waisenhaus Anbu Illam, getragen von der Mother Teresa Foundation. Um die 80 Jungs von 7 bis 20 Jahren, ein Großvater der jeden Tag kocht, zwei Mütter, die als Freiwillige bei allem helfen - und wir, zwei Freiwillige aus Deutschland, die – das sind die festen Bewohner und Mitarbeiter in Anbu Illam.  


Ein typischer Tag beginnt für die Jungs schon um fünf Uhr, sie baden auf dem Dach, waschen ihre Wäsche und ziehen ihre Schuluniform an. Ab halb sieben bis acht wird dann erst einmal gelernt. Für uns beginnt der Tag um 6:20, denn ab sieben geben wir den 6. bis 8. Standards Englisch Leseunterricht. „Kale Vanakkam“ Um acht Uhr gibt es endlich Frühstück, das, wie jede Mahlzeit, aus Reis besteht. Auf die Frage „Sappidingla?“ – wir verzichten. Denn zum Frühstück auch noch Reis essen geht gar nicht. Es folgt das allmorgendliche Ritual an Schultagen, dass sich alle 3. bis 10. Standards in Zweierpärchen in einen langen Zug aufstellen, was gar nicht einfach scheint. Zur nahgelegenen Elementary und Highschool sind es nur knapp 10 Minuten zu laufen. Vor der Schule verabschieden sich die Jungs mit einem winkenden „Bye, aakkaa!“*, und wir haben den Vormittag für uns. Die älteren Jungs haben sich derweil schon selbstständig zu ihren Schulen aufgemacht.
Zum Mittagessen sind die meisten wieder da, und dieses Mal essen wir mit ihnen – Reis mit Sambar und einer täglichen Variation an Gemüse. An besonderen Tagen wird das Essen auch mal gesponsert, dann gibt es eventuell zusätzlich Nachttisch oder auch mal Fleisch. Bis um 16:30 sind die Jungs dann nochmal in der Schule. Wir vertreiben uns die Zeit, indem wir die Stadt erkunden oder auch mal Mittagsschlaf halten, denn vor allem am Anfang mussten wir uns sehr an die dauernde Hitze gewöhnen.  



 „Male Vanakkam“ Wenn die Jungs aus der Schule zurück sind, gehen sie erst einmal ausführlich Cricket oder Fußball auf dem gegenüberliegenden Feld spielen. Da das Feld auch als Straße dient, fährt auch ab und an ein Motorrad, Kleinbus oder Schulbus durch das Spielfeld. Manchmal kommt eine Kuh durchs Bild gewackelt oder der Cricketball fliegt in  einen der Gräben, der als Müllsammelplatz dient. Einmal geschah es, dass der fliegende Cricketball in einer vorbeifahrenden Rickshaw landete und davonfuhr. Da schauten die Jungs ganz schön doof aus der Wäsche, einer musste schließlich hinterherrennen. Um fünf ist das Spielen vorbei, es wird gebadet, und dann gibt es Chaia und Snacks.
Für uns oft der anstrengendste Teil des Tages, die „Studytime“ ist von sechs bis acht. Nun müssen alle Jungs, nach Standards geordnet, Hausaufgaben machen und lernen. Die Ältesten lernen für sich, die 8. bis 10. Standards haben eigene Tutoren. Unsere Aufgabe ist es, die allerjüngsten 3. bis 6. Standards zu beaufsichtigen und oft zu beschäftigen. Dabei lieben sie es, wenn wir für sie malen und zeichnen oder anders herum.
Da es eine christlich orientierte Einrichtung ist, wird von acht bis kurz vor neun täglich der Rosenkranz gebetet. Auch vor dem Lernen und dem Essen gibt es stets ein Gebet. Dann gibt es Abendessen, die einzige Mahlzeit, wo wirklich alle Jungs zusammen Essen – wieder Reis mit Sambar und Gemüse. Wenn wir einmal nicht mitessen, weil wir zu viel von Reis haben, folgt die sorgenvolle Frage ob wir denn krank seien. Hat einer der Jungs Geburtstag, was mindestens einmal die Woche vorkommt, gibt es davor noch Kuchen und es wird gesungen. Als große Schwestern dürfen auch wir dem Geburtstagskind ein Stück Kuchen füttern.
Es folgt die schönste Stunde des Abends, die „Gamestime“. In dieser albern wir ausgelassen mit den Kleinen und Großen herum, besonders auf Kitzeln und Daumenwrestling fahren sie voll ab. Wir spielen viele Runden Uno, Karambol oder Romie mit ihnen. Bekommen auch ab und an indische Filmsongs vorgesungen, u.a. „Why this kolaveri“ oder sie zeigen uns, wie Tamilen in der Disco tanzen. Um kurz nach zehn müssen schon alle ins Bett außer die Ältesten, die noch fleißig Lernen – „Iravu vanakkam – Good night“!

So schön es hier auch sein mag, es gibt auch einige Schwierigkeiten:
„Lost in translation“ scheint hier unser tägliches Motto zu sein. Wir können zwar ziemlich gut Englisch, aber die Jungs, vor allem die ganz kleinen, können dies so gut wie gar nicht. Auch mit den ältesten Jungs gibt es ab und an Kommunikationsschwierigkeiten und es kann, für beide Seiten, ganz schön frustrierend sein, wenn der andere einen nicht versteht. Sprache ist unglaublich wichtig!
Wir mussten auch feststellen, dass es ganz schön nervenaufreibend sein kann jeden Tag immer dasselbe (Reis) zu essen. Man fängt an, das Essen zu Hause zu vermissen. Deswegen gehen wir auch einmal in der Woche auswärts essen, damit uns der Reis nicht irgendwann aus den Ohren heraus quillt.
Was wir uns hier immer sicher sein können:
Ist die Tür unseres kleinen Zimmers offen, das immer zwei drei Köpfe reinschauen, um zu fragen was wir machen.
Das sich unsere Kameras größter Beliebtheit erfreuen, und wir sie mit vielen Poser-Fotos zurückbekommen.
Das wir, egal was wir machen, stets von zehn großen und kleinen, liebenswerten, fröhlichen und neugierigen Jungs umgeben sind!
*„Baaaye, Mariakka, Roxannakka!“ – „Baaaye!!“ – „No, you’re not boy, you’re a girl“ – „Okay, then tschus –ade.“
- Es berichteten Roxanna und Maria aus Thanjavur, Tamil Nadu - Indien

Montag, 11. November 2013

Gunilla Grün - Orissa, Indien



Für 4 ½ Monate verbringe ich mein Auslandssemester gemeinsam mit zwei Kommiliton/Innen aus Tübingen, Anne und Carl, an der Sambalpur University in Jyoti Vihar, Burla in dem indischen Staat Odisha (Orissa). Mit Carl reise ich zeitgleich an. Im Anschluss an der universitären Teilnahme des hiesigen Semesters haben wir einen weiteren guten Monat (gemeinsame) Reise durch andere Regionen geplant. Anne ist bereits vor uns angekommen und ist uns in punkto Indienerfahrung und Sprachkenntnissen um Einiges voraus. Sie wird eine eigenständige kleine Forschung betreiben, während wir unsere Feldforschungen, deren Inhalte noch nicht feststehen, im Kontext des dritten Semesters des Masterstudienganges Anthropologie gemeinsam mit den anderen indischen Student/Innen absolvieren werden.
Die Situation vor Ort lehrt mich schnell: Die Realität ist immer anders als das Konstrukt.
(Text & Fotos von Gunilla Grün)



TEIL 1
Der Weg zu Gelassenheit?
August 2013 bis Januar 2014 in Indien. Anreise auf den letzten Sprung.
Eine Woche vor Reiseantritt findet sich spontan doch noch eine (mir fremde) Person, die eines meiner Zimmer der Tübinger Wohnung anmieten will, allerdings direkt am folgenden Tag. In einer Nachtaktion räume ich es leer. 
Da das Geld des Stipendiums auf meinem vormals leeren Konto erst spät eintrifft, bin ich gezwungen mich im „Hardliner-Verfahren“ geballt in den letzten vier Tagen mit allen noch möglichen Impfungen vollpumpen zu lassen – ich, als resoluter Impfgegner!! Was tut man nicht alles, um sein Ziel zu verwirklichen! Stoisch vertraue ich auf meine körperliche Robustheit.


Drei Tage vor Abreise „überführen“ zwei Freunde mit mir das Meiste der gepack-ten Habseligkeiten meiner Wohnung nach Franken, da ich diese Bleibe nach meiner Rückkehr aus Indien dann bald werde auf-geben müssen.
Einen Tag vor Abreise befindet sich mein Visum in der Post.
Fünf Stunden bevor mein Zug Tübingen in Richtung Zürich verlässt bringe ich Recher-chematerial in die Unibibliothek zurück, zwei äußerst knappe Stunden vorher bin ich immer noch dabei, Umzugskisten in meiner Wohnung zu packen und notdürf-tig Küche und Bad zu putzen. Dann steht der zweite, bis dato verschollene, meiner zukünftigen Untermieter unerwartet vor der Tür – ich entlasse ihn entnervt ohne schriftlichen Mietvertrag und hoffe aufs Beste. Wochenlange Auseinandersetzungen darüber, was alles zu erledigen wäre, um den Auslandsaufenthalt angemessen anzutreten, enden in provisorischen „last-minute“ Entscheidungen.
20 Minuten vor Abfahrt „schmeiße“ ich schnell wahllos und wenig geistesgegenwärtig Klamotten und Gegenstände in meinen Koffer, nur eine Unmenge an Apothekenartikel (Kanülen, Spritzen und Verband-materialien für ein ganzes Dorf) findet „ganz nach Plan“ seine vorgesehene Bestimmung in meinem Gepäck. Recht dezent macht sich nun doch ein gewisses flaues Gefühl im Magen bemerkbar. Alles hinterlasse ich unvollendet. Habe ich Wesentliches vergessen? Die perfekte Ausgangssituation für einen langen Auslands-aufenthalt... Ach was, ist ja nur ein halbes Jahr Abwesenheit!  Karma-dharma. Hektische Handlung war genug die letzten Wochen. Nun hoffe ich auf mein Schicksal.
Zwischenstopp in Zürich: 12 Stunden verbleiben mir noch, meine Kinder nochmals zu sehen und mich von meiner Familie zu verabschieden. Alle sind sehr unaufgeregt, als wäre ich in zwei Wochen wieder da. Und selber befürchte ich das insgeheim auch. (Wollte ich nicht noch eine Auslandskrankenversicherung abge-schlossen haben?!?)
Erst am Zürcher Flughafen fügt sich alles ein, als genau die Person vor mir am Check-In-Counter ganz zufälliger Weise Carl, mein zukünftiger Reisebegleiter (und aus indischer Sicht zukünftiger „Bruder“, „Ehemann“, „Sohn“, „Beschützer“) aus Tübingen ist. Hej, es ist real! In ein paar Stunden werden wir das erste Mal in unserem Leben indischen Boden betreten! – Kalkātā, wir kommen!


Von Kalkātā nach Sambalpur – Sprung ins kalte Wasser?
Menschenhupentempeldreck
Rikschacurrybusversteck
Bettlerbrachenlumpenkot
Lebensingweratemnot

Hundeschwülegötterkuh
AugenskelettenstimmenYOU!
Händlerpferchenhimmelnah
Hindustäbchendufterbar


Sitarmessingrupienschrott
Überunternebenjob
Gassenteafortwoagent
Schocktouristenexkrement

Farbenqietschenkrüppelqual
Monsunmantragüllkanal
Stimmenräderchickenhalt
Delhidampft-urmittelalt

(Gedicht Old Delhi von Rainer Thielmann
aus: „INDIEN VON INNEN - rätselhaft magisch, wundersam fremd“)

Wie bereits ersichtlich, ist Organisation nicht meine Stärke: Vielleicht ein Zug, der mir in Indien die Akkulturation etwas weniger holperig wird erscheinen lassen? Tatsächlich ist es auch so, dass ich niemals das Gefühl habe, Indien „versinke im Chaos“. Im Gegenteil, alles scheint nach unsichtbaren Gesetzen zu funktio-nieren und sich perfekt ineinander ein zu fügen. Mir fällt eher schwer, dass es ein „Zuviel“ an Regelwerk gibt. Die koloniale Bürokratie lässt grüßen! Schnell muss ich auch begreifen lernen, dass die Regeln, welche ich zu Beginn so krampfhaft zu durchschauen suche, allesamt relativ sind. Aber Nichts geschieht rein zufällig - wie ein behäbig knarzendes doch gut geöltes Räderwerk tritt eine geheime, ungeahnte Maschinerie im Hintergrund in Kraft. Und tritt Erwartetes nicht ein, so wird ab-gewartet. Irgendetwas ergibt sich immer. Ob das Irgendetwas mir nun gefällt, dar-über muss mein anspruchsverwöhntes Selbst noch zu einer Entscheidung finden. Aber auch Geduld ist leider nicht gerade einer meiner Stärken – und dies wird mir in den kommenden Wochen noch so Manches an inneren Kämpfen bereiten, denn die Univerität in Sambalpur wird mich lehren! …
Im Flugzeug wälzen Carl und ich als jung-fräulichen Akt meinen (wenig informativen, dafür aber kiloschweren) Reiseführer und entscheiden aufgrund der Schreckensnach-richten eventuell nun doch keine Nacht in Kalkātā zu verbringen. (Carl lässt sich von den erwähnten Wanzen abschrecken). Wir gehen nochmals alle Krankheiten durch, vor denen sich ein westlicher Tourist wohl zu hüten habe und sinnieren mit Galgenhumor darüber, wen es wann und wie wohl als Erste/n erwischen wird. (Und tatsächlich werden wir einige Wochen später ein in-disches Krankenhaus von innen erleben dürfen, aber das ist eine andere Geschichte.) Schnell ist klar: Wir sind das „perfekte“ Reisegespann. Keiner von uns Beiden hat eine Ahnung von auch nur Irgendwas. Keiner hat wirklich Lust, konkret etwas im Vorfeld zu planen.
Nach unserem Check-In in Zürich hatten wir uns noch stolz und mit reichlichen Vorsätzen gewappnet unserer „letzten“ Zigaretten und Tabakpäckchen „entledigt“.

Rauchen ist in Indien in der Öffentlichkeit illegal – und schon gar Nichts für Frauen! Wir schwelgten derart lange im dunstgeschwängerten Mini-Raucherraum, um nur in letzter Minute noch das Flugzeug zu erklimmen. Bereits während des Zwischenstopps in Dubai sah man uns dann schon Zigaretten-schnorrend durch die Wandelhallen wandelnd. Rauchen, ein Thema, welches uns die kommenden Wochen mehr als intensiv begleiten wird. (Ich bin mittlerweile alle Sublimierungsversuche durch, meiner Sucht „Frau“ zu werden: Ich habe versucht, mit pān[1] zu substituieren, mich mit meinem „hohen“ Alter von 44 Jahren zu legitimieren[2], denn ältere Frauen „dürfen“ bidis (gerollte Tabakblätter) rauchen, - allerdings nur im ethnischen Kontext, dem klassischen hinduistischen Frauenbild ist das nicht gemäß -, habe versucht, „heimliche“ (ein Ding der Unmöglichkeit!!) Orte zum „sündigen“ zu finden. Alles hoffnungslos!)
In Kalkātā gelandet, begrüßt uns im „gate-way“ beim Ausstieg aus der Maschine eine Wabe dichter, feuchter Luft, gepaart mit dem den tropischen Gebieten inhärenten typischen, alles überlagernden Duft von Schimmel und feuchtem Gemäuer. Drei Tage lang werde ich diesen Geruch an mir selber und meinen Kla-motten wahrnehmen, danach haben sich mei-ne Geruchssinne angepasst. Meine Schweiß-poren allerdings schaffen es nicht, diesen Akt der Assimilation zu vollziehen. Noch nach zwei Monaten wird mich jede körperliche Anstreng-ung aussehen lassen, als sei ich frisch der Sauna entstiegen. Desweiteren begrüßt uns an den Flughafen-Ausgängen aber auch bewaff-netes Militär. Den ersten meiner zukünftig mannigfaltigen Spekulationen ist der Boden geebnet. Natürlich begehen wir sogleich auch einen folgerichtigen Fehler. Wir verlassen das gesicherte Areal, nur um daraufhin fest zu stellen, die Wechselbank wäre im inneren Bereich gewesen, der ohne gültigem Flugticket nicht zu betreten ist. Da wir keine Rupien besitzen hüte ich unser Gepäck während Carl sich auf eine mehrfache Odyssee quer durch den Flughafen begibt, um schlussendlich mit einem unter-schriebenen „permit“ zurückzukehren, welches uns den „Wieder“-Einlass ermöglicht. Huh!
Erste rkā-Fahrt durch den Stadtverkehr zum Bahnhof, ein herrliches Gefühl! Keine Angst vor quietschenden Autoreifen, malträtiert von kaum funktionierenden Bremsen, oder den willkürlich wirkenden Slalom-Manövern wenig vertrauenerweckender blutjunger Chauffeure, - sondern angenehmer schweißkühlender Fahrtwind und die Kakophonie der vieltönigen Hupen, der Geruch einer fremden Stadt und das Vorbeirasen unzähliger, viel zu vergänglicher Momentaufnahmen - das Gefühl von Leben in den Adern! Wie changierend-perlmuttfarbene Perlen auf einer Schnur im Moment des Zerreißens. Das Kullern und hohe, harte Klirren beim Auftreffen auf einem kühlen Steinfußboden, die Farben wechselnd im Spiel von Licht und Schatten der Bewegung. Beim Auf-prall sich kreuzend übereinander hüpfend, sich scheinbar vervielfältigend und gleichsam rasant entziehend, zu schnell für die Sinne und zu schnell für das Denken. Gerne würde ich dies Alles Greifen, Festhalten. Streckte  ich meine Hand aus, entzöge es sich meinen Fingern und ich griffe ins Leere. Quecksilbrig rasen meine Gedanken und Eindrücke, im Moment der Wahrnehmung bereits metamorphosierend, entgleitend, und von stetig heran rollenden neuen Eindrücken verdrängt.

Da ich zwar ohne Zahnbürste, aber mit einem Pulk an Papierkram reise, entscheide ich mich, meinen ganzen Krempel im Kalkātā-Bahnhof abzugeben anstatt ihn einen Tag durch die Stadt zu hieven. Jetzt in dieser Menschen-menge den Koffer öffnen, in der Hoffnung, ganz unten befände sich meine Kamera? Nein. Wer weiß, ob man damit nicht einen Diebstahl provoziert; die rationale Europäerin meldet sich zu Wort! Im Nachhinein bereue ich dann aber doch, den ersten Tag nicht visuell dokumentiert zu haben.

Und im Nachhinein sind Bedenken solcher Art sehr schnell hinfällig geworden, bald werde ich situativ aus dem Bauch heraus entscheiden. Weder die Suche nach dem richtigen Bus, noch das Gewusel in den Straßen empfinde ich als anstrengend. Ich warte immer auf den „Kulturschock“ des Westlers, habe Bilder von unerträglicher Armut und starrendem Dreck im Kopf, aber alles fühlt sich sehr „un-fremd“ und „un-spektakulär“ an. Ekel, dort wo er auftaucht, zerrinnt schnell bei näherer Betrachtung. Selbst die Müllberge erscheinen mir als erstaunlich „Wenige“, Abfall wird nicht willkürlich Irgendwohin geworfen, sondern nur an spezifischen Orten: Zu schon existierendem Müll oder um den Essens-stand herum (was täglich vom Inhaber beseitigt wird). Da das Klima schnell kompostiert und der Rest verbrannt wird, erscheint mir das nur logisch.
Alles wirkt einfach nur unmittelbarer auf mich ein – und dieses Gefühl genieße ich. In der Anonymität der Stadt, kann ich mir jede Blöße erlauben (wie naiv auf gut Glück auf fahrende Busse aufzuspringen, während alle Umstehenden grinsen). Beobachtet zu werden irritiert mich nicht, denn ich Selber bin es ja, der gaffend und alles einsaugend durch die Gassen wandert. Seltsamerweise empfinde ich eine Art Urver-trauen und fühle mich sofort wohl. Ich habe die Gewissheit, mich auf mich und meine Entscheidungen verlassen zu können, denn die Resultate sind zeitnah spürbar. Später, im universitären Kontext, wird sich das für mich wesentlich anders darstellen.
Noch in Kalkātās Straßen wird Carl, sozusagen als erster Akt der „Initiation“, von mir auf einen Barbier-stuhl gelotst, wo er nicht nur in Windeseile – unter kindlichstem Amüsement der sich ansammelnden (männlichen) Menschentraube – seiner Haarpracht be-raubt wird sondern auch in den Genuss einer angst-einflößend rasanten Rasur mit Messer und einer unzähligen, auf Borden aufgereihten Menagerie von industriellen Schönmachern und Duftwässerchen kommt (inklusive Zehn-Sekunden-Massage). Mehrfach wird die ganze Prozedur durch einen Abrieb des gesamten Gesichtes mit einem Handtuch, welches überzeugende Ähnlichkeit mit dem Öllappen einer Autowerkstatt aufweist, krönend unterbrochen.
Auch wenn Carl hierbei einen leicht irritierten Eindruck hinterlässt, sobald es um Essensstände geht, kennt sein Wagemut keine Grenzen. Ich enthalte mich am ersten Tag dann doch lieber, die warnenden Worte unserer Professoren hallen in meinen Gehörgängen nach. Stattdessen beschränke ich mich auf im Smog einer Brücke beim Vorbeiflanieren gekaufte grüne Miniatur-Bananen, deren Schale ich so behutsam schäle, sodass meine dreckstarrenden Finger nur ja nicht das Fruchtfleisch berühren mögen! Bereits nach einem Tag sind jedoch alle Vorsichtsmaßnahmen über den Haufen geschmissen, es macht einfach zu viel Spaß, sich durch alles durch zu probieren. Immer nur „bottled water“ zu kaufen geben wir spätestens nach zwei, drei weiteren Tagen auf, da sich unser westlich geschultes Ökogewissen anhand der Plastik-Müllberge zu Wort meldet.
Eine unserer großen „Freizeitaktivitäten“ wird es zukünftig sein, uns hinter das Tor des Univer-sitätsgeländes zu begeben und unser Essen an den öffentlichen tiffin-Ständen zu genießen. Das Essen wird in herrlich geflochtenem Geschirr aus Blättern serviert, dessen Produktion eine der „Freizeitbe-schäftigungen“ der Mädchen der anliegenden Dörfer darstellt. Die Stände selber bestehen aus kleinen fahrbaren Wagen oder teils aus reetbedeckten Hütten, in denen immer Wasserkanister zum Händewaschen und Mundausspülen bereit stehen. Da mit der rechten Hand gegessen wird, sehen wir uns sogleich einer Übung gegenüber, die unsere kognitiven Fähigkeiten reichlich schult; immer wieder sind wir versucht, die linke, unreine, Hand zur Hilfe zu nehmen. Auch hier wird sich rasch zeigen, wie kontextabhängig diese Regel ist, denn „intellektuelle“(!) Inder essen „sogar mit dem Löffel“!!
Gleich am ersten Tag in Kalkātā darf ich mich über meine Unbedachtheit ärgern. Ich habe doch in meiner westlichen Konsumenten-Selbstverständlichkeit tatsächlich verdrängt, dass in Indien der „Mythos über das Hymen“ wohl noch existiert: Ich habe vergessen, Tampons einzupacken, - ein Luxusprodukt, dass in Indien scheinbar nirgends über den Ladentisch zu erhalten ist, wie mir Anne später berichtet. So ereilt mich im kāli-Tempel, indem sonst nur Ziegen blutig geopfert werden, meine eigene kleine „Blutgabe“. In meiner Verzweiflung, einen Ort in den Straßen zu finden, das Ganze etwas ungeschehen zu machen, darf sich Carl gleich als „Beschützer meiner Ehre“ beweisen, darf sich am Beginn einer Gasse postieren, um mich vor Blicken zu bewahren. Auch hier ein Akt der Unmöglichkeit. Der erreichte Effekt meines auffällig suchenden Verhaltens führt nur dazu, alle Bewohner der leer und verlassen wirkenden umliegenden Häuser an die Fenster zu treiben. Nun ja,  an eine öffentliche Toilette ist nicht zu denken.
Nach einem Tag in den Straßen Kalkātās nehmen wir nachts den Zug nach Sambalpur, um von dort nach Burla weiter zu reisen. Ehrlich gesagt, bin ich etwas enttäuscht in meiner „Gier“ nach Exotik und Abenteuer, denn auch hier geht alles sehr gesittet zu. Ich hatte mir die Fahrt überfüllter und lebhafter vorgestellt. Bis auf die Schwierigkeit für uns Externe, tatsächlich das richtige Gleis zu finden, den richtigen Fahrkartenschalter ausfindig zu machen, sind die Massen an Menschen nicht unüberschaubar, sondern eher geordnet wartende Grüppchen. Jeder Reiseführer warnt vor Diebstahl und wir schlafen sicherheitshalber auf unserem Gepäck, aber im Grunde fühle ich mich zu jeder Zeit sicher, regelrecht geborgen. Carl schläft durch, ich kann kaum ein Auge zu machen, beobachte stattdessen die zusteigenden Leute. Gegen morgens sehe ich immer mehr Mäd-chen in ethnischer Kluft einsteigen, oftmals in Zweiergruppen, sodass ich annehme, sie sind Wander-arbeiterinnen. Wie später noch oft der Fall sein wird, verhilft uns unsere Umgebung dazu, keine schlechte Erfahrung machen zu müssen. Zwei Mitreisende weisen uns im letzten Moment darauf hin, dies sei die Station, den Zug zu verlassen.

Am Sambalpur-Bahnhof wählt uns gleich ein rkā-Fahrer aus, jung, hip, modern angezogen. Er reißt sich da-rum, meinen fahrbaren Koffer zu er-greifen und schleift ihn über die brüchigen Straßen. Nachdem er ihn kurz vor dem Auto jedoch anheben muss, um ihn über Schotter zu stem-men und sein Gewicht zu spüren bekommt, lässt er ihn nonchalant stehen. Ah ja, ich darf ihn also durch-aus selbst in den Wagen heben! Seltsamerweise treffe ich dies Ver-halten immer wieder an: Als Frau wird Vieles von den Männern stell-vertretend für mich übernommen (was ich gerne selber tun würde), wenn es aber um körperliche An-strengungen geht, dann wird das eben den Frauen überlassen. In den kommenden Tagen beobachte ich Folgendes: Auf dem Bau hieven die Mädchen und Frauen die schweren Lasten, auf den Straßen sind die Frauen unterwegs mit Äxten in den Wald, Holz holen, in den Schulen (und zu Hause) schleppen die Mädchen die schweren Wassereimer, während die Jungs zusehen. Odisha trägt an allen Orten ein öffent-liches Bild von schwerstarbeitenden Frau-en zur Schau, und genauso eines von Kinderarbeit. Kindheit generell wird für mich ein sehr ambigues Thema werden, im Kontext einer meiner zukünftigen Kurse an der Uni werde ich über den Aufenthalt in einer NGO auch Schulen besichtigen kön-nen und so Einiges in Frage stellen müs-sen, was man hier der Fremden, da als fortschrittlich angesehen, stolz präsen-tiert. Doch viel scheint im Umschwung, viel Geld wird investiert in Aufklärung, die Schulen tragen Plaketten mit „education is our right“ und „punishment free zone“ und die Bäume an den Hauptstraßen zieren Schilder mit einer „child-hotline“ gegen Missbrauch und mit Appellen gegen Kinderarbeit.
Einige Tage lang überlege ich, ob ich mich bei meiner Feldforschung auf die überall präsente Bauindustrie kon-zentrieren soll. (Zumindest soll dies vorerst zu meinem beliebtesten Fotomotiv avancieren). 


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Wer hier noch nicht gelangweilt ist und die ganze Geschichte erfahren möchte, wie es mir weiter erging nach der Ankunft in Sambalpur mit neuen Erfahrungen, vielschichtigen Reisen und Krisen, Krisen, immer wieder Krisen, - und wer wissen möchte, ob ich doch zu guter Letzt noch ein Stück Gelassenheit lerne, -  der kann sich noch Teil 2 und 3 zu Gemüte führen.

( Für Teil 2 und 3 -> email an ethnofachschaft@hotmail.com )


[1] Eine Paste aus gelöschtem Kalk, geriebener Betelnuss und eine Gewürzmischung aus Kardamom, Anis, Koriander, manchmal Tabakpulver, Pfefferminz oder Kokos, werden in ein Betelblatt gewickelt und gekaut – angeblich als „Munderfrischer“. Das Ganze erzeugt eine typisch rot-braune Spucke, die die Zähne verfärbt und in ganz Asien, in ausgespuckter Form, Gebäude und Straßen ziert.
[2] Die durchschnittliche Mortalitätsrate liegt in Odisha für Frauen bei ca. 50 Jahren.

Lilian-Marleen Beck - Jalal-abad, Kirgistan



 Lilian-Marleen Beck - Jalal-abad, Kirgistan

Im Südwesten Kirgistans bin ich dabei eine Auftragsforschung für das biocotton project der Organisation Helvetas Kirgistan zu machen. Ihr Sitz ist in der Stadt Jalal-abad.  Hier habe ich auch meinen konstanten Wohnsitz aber wochenweise bin ich in den Baumwolldörfern und wohne bei Bauernfamilien. Gerade habe ich einen Film für die Organisation über ökologischen Baumwollanbau fertiggestellt. Was soll ich erzählen? Ich glaube am besten kann man sich den Alltag vorstellen, wenn ich euch von einem Tag hier erzähle. 

Zum Beispiel von diesem:

Endlich nach langem Warten bekomme ich wieder Übersetzung, und auf einmal scheint alles möglich.  Heute fahren wir nach Tamarik, ein Dorf am Fuße der Berge, das oft unerreichbar ist mit normalen Autos, wegen Überschwemmungen, durch die Bergflüsse. Während der Autofahrt konzentriere ich mich darauf nicht auf das Verkehrsgeschehen zu achten, sonst stellen sich mir die Nackenhaare zu Berge. Der Fahrstil gleicht hier der Annahme man wäre in einem Computerspiel mit 10Leben.

Wir fahren an Melonenständen, Mais – Baumwoll-  und Reisfeldern vorbei, manchmal muss das Auto bremsen weil wir in eine Schafherde geraten, die unbeirrt ihrer Wege am Auto vorbei zieht. Über einen holprigen Weg erreichen wir schließlich das Haus der Groupleaderin der Biobaumwollgruppe in Tamarik. In einem Haus aus 2Zimmer und einer Terrasse bestehend werden wir freudig mit Chai, Brot, das traditionelle Gericht Plof (Reis mit Baumwollöl und ein bisschen Fleisch),  begrüßt. Gulzaada meine Übersetzerin wird gleich aufgeregt gefragt welche Fragen wir haben. Und schon sind wir mitten im Interview. Wir werden von der Group Leaderin von einem Haus zum anderen geführt. Nach einem Interview mit einem Ökonom in Pension und leidenschaftlichem Bauern werden wir stolz durch seinen Garten geführt, der in unglaublicher Blüte erstrahlt, in dieser ausgedörrten Umgebung, deren Hügel Wüstendünen zu gleichen scheint.
In einem anderen Haus bekommen wir zum Abschied viel Gemüse aus dem Garten geschenkt. Sie sind stolz - alles ohne Chemikalien!


Abends wird Gulzaada gleich eingespannt in die Vorbereitungen des Mahls, ich darf als ausländischer Gast nicht helfen.  Fühle mich dabei unwohl aber beschäftige mich mit Notizen und beobachte aus der Ferne, wie sie in der typischen Außenküche über Feuer kochen. Über den Hügel wird das Vieh nach Hause getrieben.
Während des Abendessens gibt es japanischen Aktion zur Begleitung, die drei Enkel die bei der alleinstehenden Groupleaderin leben sitzen in einer Reihe und schauen gebannt in den Fernseher.  Als eine leichtbekleidete Frau auftaucht wird weitergespult. 

Im Dunkel der Nacht erscheint mir die Vielschichtigkeit der Wahrheit undurchdringbar, doch morgen werde ich weiter suchen nach den vielen Gesichtern der Realitätswahrnehmung und Darstellungen.
Wie von der Oberfläche in die Tiefe dringen?  Wieder einmal wünsche ich mir fließend Kirgisisch zu sprechen. Ich beschließe länger in diesem Dorf zu bleiben, vielleicht entkoppelt das Vertrauen der Bauern, die Darstellung von der  Beschreibung der eigenen Realitätswahrnehmung.

Zu ein paar Dingen, über die ich mir Gedanken gemacht habe bevor ich nach Kirgistan flog:Im Süden gibt es so wenig Fleisch, dass es kein Problem ist es auszulassen.  Habe seit 2 ½ Monaten keinen einzigen Bissen Fleisch zu mir genommen ohne die Sympathie von meinen Gastgebern einzubüßen. Mein Ehering tut gute Dienste, nachdem eine der ersten Fragen verheiratet? Gestellt wurde, werde  ich in Ruhe gelassen.